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Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 64, 17. März 2010, S N3.

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Sprachliche Zwischenfälle

Musterlesen

Dem Troja-Entdecker Heinrich Schliemann hätten ein paar Originaltexte, ein Wörterbuch und die passende Grammatik genügt, um eine Sprache zu erlernen heißt es. Der Erwerb einer Zweitsprache ist aber kaum allein über den reinen Wortschatz und den Bestand an syntaktischer. Regeln zu leisten. Indessen verfuhr die Sprachwissenschaft lange Zeit ganz ähnlich und beschrieb ihren Gegenstand vor allem lexikographisch und grammatisch. Dass dies nicht genügt, beweisen schon die festen oder typischen Wortverbindungen, die sowohl das Erlernen als auch das Erforschen einer Sprache vor Herausforderungen stellen, die Muttersprachlern nicht leicht auffallen.

Im Deutschen sind Haare blond: wird das Adjektiv substantiviert, steht es als Neutrum noch für Bier. Alles andere ist gelb. Starke Raucher sind im Englischen schwer (heavy smokers), im französischen eher groß (gros fumeurs). Wo der deutsche Polizist: „Ermittlungen" aufnimmt. nimmt der Südtiroler „Erhebungen“ auf. Und während der Deutschschweizer von „griffigen Maßnahmen“ spricht, nennt man sie hierzulande eher „wirksam“. Von idiomatischen Wendungen mit übertragener Bedeutung muss man in diesem Zusammenhang noch gar nicht reden.

Seit einigen Jahren finden sprachliche Muster, die gleichsam zwischen Lexikon und Grammatik liegen, verstärkte Aufmerksamkeit. Mit welchem Ertrag und welchen Methoden dies geschieht, darüber informierte in der vergangenen Woche die Jahrestagung des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Konsequenzen der neuen Perspektiven sind schon außerhalb der Fachwissenschaft zu spüren: Typische Wortverbindungen finden stärkere Berücksichtigung in gebräuchlichen Wörterbüchern; ein Lexikon so genannter Kollokationen wird derzeit von einem Team um die Basler Linguistin Annelies Häcki Buhofer erstellt, die davon auf dem Kongress berichtete. In verbreiteten Darstellungen des Sprachsystems sei nicht mehr die alte Regelgrammatik alleinige Grundlage, vielmehr fänden darin zunehmend Ansichten der Konstruktionsgrammatik Platz, betonte Anatol Stefanowitsch (Bremen), der selbst Anhänger dieser Richtung ist.

Die neuere grammatische Theorie, die in diversen Spielarten auftritt, wurde immer wieder in den Referaten thematisiert, lobend oder relativierend. Sie geht davon aus, dass Sprachen durch „Konstruktionen" genannte Form-Funktions- oder Form-Bedeutungszusammenhänge wesentlich geprägt seien, wodurch sie die alte Zweiteilung in Lexikon und Grammatik hinter sich lässt. Anders als die von Noam Chomsky begründete Generative Grammatik nimmt sie kein angeborenes sprachliches Wissen an. Einer ihrer prominenten Vertreter, Michael Tomasello, versucht das anhand des kindlichen Spracherwerbs zu demonstrieren. In ähnlicher Weise machte in Mannheim die Basler Linguistin Heike Behrens plausibel, dass Kinder früh Form-Funktkions-Einheiten übernehmen und dann auf andere Fälle anzuwenden verstehen. Das Wissen um bestimmte Sprachmuster erleichtere den Erwerb ähnlicher Konstruktionen. Heike Behrens erklärt damit etwa, warum Kindern das Verständnis und der Gebrauch des mit „sein" gebildeten Zustandspassivs leichter fällt als derjenige des auch „Werden-Passiv“ genannten Vorgangspassivs.

Der britische Lexikograph Patrick Hanks äußerte sich indessen generell skeptisch über Theorien, die alle möglichen Sprachäußerungen erklären wollen. Dies nämlich habe dazu geführt, „dass die Linguistik in einem Meer von Grenzfällen ertrinkt“. Besser sei es, nicht das sprachlich Mögliche, sondern das Wahrscheinliche zu untersuchen, weswegen Hanks für die Analyse der große Textmengen umfassenden digitalen Korpora plädierte. Sie könne zeigen, dass das „natürliche linguistische Verhalten viel stärker geregelt ist, als die meisten von uns dachten", so Hanks.

Die Arbeit mit Textkorpora ist ein weiteres Beispiel für die zunehmende empirische Ausrichtung der Sprachwissenschaft. Diese Tendenz belegt zudem die Neurolinguistik. Mit Methoden der Hirnforschung zeigt sie etwa, dass das Verstehen eines Satzes offenbar weniger von Verben abhängt, als man gemeinhin meint. Deshalb auch stelle die in vielen Sprachen gebräuchliche Verbletztstellung die Sprecher vor keine allzugroßen Schwierigkeiten. Sprachübergreifend gelte, dass im Vollzug des Verstehens schnell und effektiv nach einem „Actor" gesucht werde, so das neurolinguistische Tandem Ina Bornkessel-Schlesewsky und Matthias Schlesewsky.

Wenn es um die Interpretation der Daten geht, ist freilich noch immer die linguistische Intuition gefordert. Was die Neurowissenschaftler zeigten, versteht sich fast von selbst! Würde die Verbletztstellung die Sprecher überfordern, hätte sie bald keinen Bestand mehr. Das kann Traditionalisten trösten, die sich von mit viel Statistik arbeitender Empirie überfordert fühlen. Als tröstliches Fazit der Tagung mag zudem gelten, dass die alten Kategorien nicht ausgedient haben, sondern die Grenze zwischen Lexikon und Grammatik flexibel zu ziehen ist. Das kann auch eine Selbstbeschränkung bedeuten. So äußerte sich der prominente Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg (Potsdam) skeptisch über die Möglichkeit, eine Grammatik der stärker in den Blick der Forschung gerückten gesprochenen Sprache zu schreiben. Dennoch wurde auf der Tagung eines klar: Der Linguistik geht die Arbeit so schnell nicht aus.

THOMAS GROSS